6. Recherche jetziger Familienverhältnisse
Um über das Kriegsende 1945 hinausgehende Informationen zum möglichen heutigen Aufenthaltsort von Familienmitgliedern zu erhalten, müssen Erben zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal mit nationalen Behörden Kontakt aufgenommen haben (z.B. im Rahmen eines Wiedergutmachungsantrags, einer Rückforderung an ein Museum). Nur in solchen Fällen ließe sich auf nationalem Wege aktengestützt recherchieren und nachfragen, u.a. bei:
- Amtsgerichten
- Notariaten
- Standesämtern
- Einwohnermeldeämtern
- Museumsarchiven (z.B. Briefwechsel zu vermisstem Kulturgut)
- Stadtarchiven
- Landesarchiven (z.B. Wiedergutmachungsakten)
- BADV (z.B. Rückerstattungsakten)
- Zentralrat der Juden in Deutschland, Israelitische Kultusgemeinden (sofern die Nachkommen wieder Teil einer deutschen jüdischen Gemeinde wurden), Institutionen der Erinnerungspflege (wenn bei ihnen schon genealogische Nachfragen gestellt oder Dokumente abgegeben wurden, z.B. Moses-Mendelssohn-Akademie)
Ansonsten müssen transnationale Recherchen angestrengt werden. Emigrationsziele einzelner Familienmitglieder können z.B. (neben der bereits erwähnten Nachschlage-, Grau- und Fachliteratur) durch Recherchen in den digitalisierten Ausgaben jüdischer Exilpresse (Text- und Anzeigenteil), s. Digitalisate, ermittelt werden.
Weitere Möglichkeiten (z.B. die Recherche in Behördenakten anderer Länder oder die Auskunft daraus, besonders wenn sich Vornamen – beispielsweise Moritz, Moreau, Maurice – oder Nachnamen – beispielsweise Kohn, Cohn, Cohen, Cone – im Zielland geändert haben) stehen national nicht zur Verfügung.
Daneben empfiehlt sich auch die Abfrage genealogischer Datenbanken. Die kostenpflichtigen genealogischen Informationsangebote (wie Ancestry) können unentgeltlich z.B. an mehreren Computerarbeitsplätzen im Auswanderermuseum Ballinstadt Hamburg und im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven genutzt werden.
7. Anfrage bei internationalen Organisationen und Netzwerken
Eine Anfrage bei zentralen Auskunftsdiensten (wie dem International Tracing Service) oder international tätigen Organisationen (wie dem Leo Baeck Institute oder der Jewish Claims Conference) kann sich lohnen, weil diese Institutionen oft einen genealogischen Wissensstand besitzen. Auch etliche jüdische Vereinigungen oder Organisationen (wie die Israelitischen Kultusgemeinden oder die Israelitischen Religionsgemeinschaften) haben entweder bereits Erbensuche betrieben oder Kontakt zu Nachkommen ehemals Verfolgter aufgebaut.
Eine Anfrage bei Institutionen und Netzwerken, die sich besonders der Erinnerungspflege (z.B. Yad Vashem) oder der Familienforschung (z.B. JewishGen) verschrieben haben, bietet sich an – ebenso wie eine Unterstützungsbitte an nationale und internationale Genealogenverbände (z.B. CompGen). Die Bearbeitung solcher Anfragen kann jedoch zeitintensiv und mit Kosten verbunden sein.
Vor allem bei weniger verbreiteten Namen können auch einfache Suchmaschinenanfragen, anschließende Tiefenrecherchen und daraus resultierende Kontaktaufnahmeversuche zu heutigen Namensträgern führen. Allerdings bergen solche Recherchen immer die Gefahr zufälliger Namensgleichheiten. Dasselbe gilt für die Suche in sozialen Netzwerken.
Ist bekannt, in welchem Staat sich Erbberechtigte heute aufhalten, kann gegebenenfalls auch eine Kontaktaufnahme mit der jeweiligen Botschaft weiterführen.
8. Klärung der möglichen Erbfolge
Spätestens an dieser Stelle sind die Möglichkeiten der Provenienzforschung erschöpft und, sofern vorhanden, das Justitiariat (das Rechtsamt oder die Rechtsabteilung) des Trägers der Einrichtung unverzichtbar.
Mit dem Vorbesitzer eines entzogenen oder geraubten Objekts heute noch persönlich in Kontakt zu treten, wird demographisch bedingt eine immer seltenere Ausnahme sein. Meist wird es sich bei heute möglichen Kontakten um Kinder, Kindeskinder oder sonstige Nachfahren handeln. Heutige Familienangehörige zu ermitteln, beantwortet aber noch nicht die Frage, an wen zu restituieren ist.
Für eine Erbfolgedokumentation ist man meist auf die Hilfestellung der Erben selbst angewiesen (z.B. durch Bereitstellung von Informationen zu Familienzweigen und Schicksalen). An diesem Punkt ist deshalb zwingend eine aktive und direkte Kontaktaufnahme mit den vermutlich Erbberechtigten nötig, weil Recherchen hier an ihre Grenzen stoßen.
Anzuraten ist immer eine Kontaktaufnahme mit Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl: Es gibt Fälle, in denen die Nachkommen nichts vom früheren Verfolgungshintergrund ihrer Vorfahren wissen, z.B. weil die NS-Zeit und das dadurch erfahrene individuelle Leid, die Schädigungen und die Besitzverluste innerhalb der Familie ganz bewusst ausgeblendet blieben.
9. Prüfung von Anspruchsberechtigung und Anspruch
Die Anspruchsberechtigung ist die grundsätzliche Befugnis, Ansprüche geltend machen zu können. Diese Berechtigung ist von grundlegender Bedeutung (siehe etwa Gemeinsame Erklärung, Ziffer I). Sie ergibt sich durch Klärung der Erbfolge bzw. der Rekonstruktion der (heutigen) Erbengemeinschaft unter Zuhilfenahme von Testamenten, Erbscheinen, Vollmachten, eidesstattlichen Erklärungen oder ähnlichen Urkunden.
Der Anspruch hingegen ist das konkrete Recht einer Person, auf einer entsprechenden Grundlage von einem anderen ein spezifizierbares Tun oder Unterlassen einzufordern, wie etwa die Rückgabe eines NS-verfolgungsbedingt entzogenen Objekts. Zivilrechtlich sind die meisten Herausgabeansprüche bereits verjährt, d.h. deren (gerichtliche) Durchsetzung ist heute nicht mehr möglich. Nach deutschem Recht ist der heutige Besitzer zudem oftmals auch Eigentümer geworden. In Streitfragen sollten spezialisierte Juristen konsultiert werden.
Auch vor diesem Hintergrund kommt der rechtlich nicht bindenden Gemeinsamen Erklärung eine besondere Bedeutung zu, da sie – eben in Ermangelung juristisch durchsetzbarer Ansprüche – auf moralisch-ethischer Ebene das Ziel der Rückgabe bzw. des gemeinsamen Findens fairer und gerechter Lösungen verfolgt.