Ferdinand von Schirach lässt historische Familiensammlung auf NS-Raubgut prüfen

Nach einer Beratung durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste entschloss sich von Schirach, eine Studie zum Kunstbesitz seiner Großeltern Baldur und Henriette von Schirach aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach stellte sich der Verantwortung für die Geschichte seiner Familie. Nach einer Beratung durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste entschloss er sich, eine Studie zum Kunstbesitz seiner Großeltern Baldur und Henriette von Schirach aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Das Zentrum vermittelte ihm mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München einen erfahrenen Projektträger, der – ohne jegliche Einflussnahme Ferdinand von Schirachs – eine Provenienzforscherin mit der Recherche beauftragte. Auf diese Weise wurde die  Unabhängigkeit der Studie sichergestellt, worauf Ferdinand von Schirach einen hohen Wert legte. Erst bei der Präsentation der Forschungsergebnisse traf er die Provenienzforscherin Theresa Sepp.

Die Stu­die ver­folg­te drei Zie­le: Zu­nächst die Re­kon­struk­ti­on des Kunst- und Kul­tur­gut­be­sit­zes, über den das Ehe­paar von Schi­rach zwi­schen 1933 und 1945 ver­füg­te. Im Wei­te­ren soll­te die his­to­ri­sche Rol­le Bal­dur von Schi­rachs als „Reichs­statt­hal­ter“ in Wien ab 1940, be­zo­gen auf die Ent­zie­hung- und Ver­wer­tung von Kunst­wer­ken un­ter­sucht wer­den. Und schließ­lich re­kon­stru­ier­te die For­sche­rin die Be­mü­hun­gen Hen­ri­et­te von Schi­rachs um Rück­ga­be des zum Kriegs­en­de durch die Al­li­ier­ten  ein­ge­zo­ge­nen Be­sit­zes. Die Er­geb­nis­se die­ser vier­mo­na­ti­gen Stu­die lie­gen nun vor und sind im Fak­ten­blatt im An­hang kurz zu­sam­men­ge­fasst.

Fer­di­nand von Schi­rach stell­te re­sü­mie­rend fest: „Dass mei­ne Groß­mut­ter auch nach dem Krieg, nach den Bil­dern der Be­frei­ung von Ausch­witz, Ge­gen­stän­de und Kunst­wer­ke von den Be­hör­den her­aus­for­der­te, die jü­di­schen Fa­mi­li­en ge­raubt wur­den, er­füllt mich mit Scham und Wut. Das ist ei­ne zwei­te Schuld, ei­ne Wie­der­ho­lung der furcht­ba­ren Ver­bre­chen, ein er­neu­ter Raub. Viel­leicht hilft es den Op­fern und ih­ren Nach­kom­men zu er­fah­ren, was die His­to­ri­ker heu­te noch er­mit­teln kön­nen. Ich ap­pel­lie­re in die­sem Zu­sam­men­hang an den Ge­setz­ge­ber, die Kunst­händ­ler und Auk­ti­ons­häu­ser in die­sen ein­deu­ti­gen Fäl­len zu zwin­gen, ih­re Ar­chi­ve of­fen­zu­le­gen. Mei­nes Er­ach­tens wie­gen die be­rech­tig­ten In­ter­es­sen der Op­fer und der For­schung weit schwe­rer, als der hier zwei­fel­haf­te Per­sön­lich­keits­schutz der Käu­fer und Ver­käu­fer. Ich wür­de mich freu­en, wenn an­de­re Fa­mi­li­en ei­nen ähn­li­chen Weg ge­hen wür­den. Es ist jetzt un­ser Staat und un­se­re Ver­ant­wor­tung.“

Der um­fang­rei­che For­schungs­be­richt kann im "Mo­dul For­schungs­er­geb­nis­se" des Deut­schen Zen­trums Kul­tur­gut­ver­lus­te re­cher­chiert wer­den.

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An­hang zur Pres­se­mit­tei­lung

Fak­ten­blatt

Vor­stu­die Kunst­be­sitz Bal­dur und Hen­ri­et­te von Schi­rach

Lauf­zeit: 7. Mai bis 31. Au­gust 2018

htt­ps://www.kul­tur­gut­ver­lus­te.de/Webs/DE/For­schungs­foer­de­rung/

Kurz­text Pro­jekt­be­schrei­bung und Er­geb­nis­se:

Das vier­mo­na­ti­ge Pro­jekt um­fass­te drei Kom­ple­xe. Zu­nächst wur­de ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on je­ner Kunst- und Kul­tur­gü­ter, die sich zwi­schen 1933 und 1945 in Be­sitz von Bal­dur von Schi­rach und sei­ner Ehe­frau Hen­ri­et­te be­fan­den, er­stellt und die Her­kunft und der Ver­bleib mög­lichst vie­ler Ge­gen­stän­de be­ar­bei­tet. Um­fang und Art der Ob­jek­te wa­ren bis­lang un­be­kannt. Ins­ge­samt konn­ten 132 Kunst­ge­gen­stän­de do­ku­men­tiert und 70 Mö­bel und Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de fest­ge­stellt wer­den. Da­ne­ben wur­den ca. 490 Bü­cher mit Ti­tel er­fasst, was al­ler­dings nur ei­nen Bruch­teil der Bi­blio­thek der Schi­rachs dar­stellt. Für min­des­tens 5 Ob­jek­te konn­te ein ein­deu­ti­ger NS-ver­fol­gungs­be­ding­ter Ent­zug fest­ge­stellt wer­den. Da­ne­ben wei­sen min­des­tens 45 Ob­jek­te ei­ne zu­min­dest be­denk­li­che Pro­ve­ni­enz auf, da sie Schi­rach in den vom Deut­schen Reich be­setz­ten Ge­bie­ten er­warb. 
Über die Re­kon­struk­ti­on der Samm­lung hin­aus galt es, Bal­dur von Schi­rachs Rol­le dar­zu­stel­len, die er als Reichs­statt­hal­ter und Gau­lei­ter von Wien ab 1940 im Ent­zie­hungs- und Ver­wer­tungs­pro­zess von Kunst­ge­gen­stän­den ein­nahm. Als Er­geb­nis kann fest­ge­hal­ten wer­den, dass Schi­rach nicht nur sei­ne Funk­ti­on als Reichs­statt­hal­ter aus­nutz­te, um Kunst­wer­ke aus be­schlag­nahm­ten Samm­lun­gen zu er­wer­ben, son­dern auch von sei­nen Pri­vi­le­gi­en als ho­her NS-Funk­tio­när Ge­brauch mach­te, um sich auf dem Kunst­markt fi­nan­zi­ell zu be­rei­chern. 
Der drit­te The­men­kom­plex des Pro­jek­tes soll­te sich mit Hen­ri­et­te von Schi­rachs Be­mü­hun­gen um die Rück­ga­be des ein­ge­zo­ge­nen Ver­mö­gens ab den spä­ten 1940er Jah­ren be­fas­sen. Dass die Rück­ga­ben bei­na­he das ge­sam­te 1945 ein­ge­zo­ge­ne Ver­mö­gen von Bal­dur von Schi­rach um­fass­ten, war bis­lang in die­ser Di­men­si­on nicht be­kannt.

Lang­fas­sung: Zu­sam­men­fas­sung der For­schungs­er­geb­nis­se:

Zie­le der For­schung

  1. Re­kon­struk­ti­on des Be­sit­zes von Kunst- und Kul­tur­gut, über den Bal­dur und Hen­ri­et­te von Schi­rach zwi­schen 1933 und 1945 ver­füg­ten
  2. Kon­text­for­schung zur his­to­ri­schen Rol­le von Bal­dur von Schi­rach im Ent­zie­hungs- und Ver­wer­tungs­pro­zess von Kunst­ge­gen­stän­den als Reichs­statt­hal­ter in Wien ab 1940
  3. Be­mü­hun­gen Hen­ri­et­te von Schi­rachs um Rück­ga­be des ein­ge­zo­ge­nen Be­sit­zes nach 1945

Er­geb­nis­se zu 1
Auf Ba­sis der in der Da­ten­bank zum Cen­tral Col­lec­ting Point (CCP) Mün­chen zu­gäng­li­chen Kar­tei­kar­ten, die das nach Kriegs­en­de ein­ge­zo­ge­ne In­ven­tar aus den von der Fa­mi­lie Schi­rach be­wohn­ten Im­mo­bi­li­en Schloss As­pen­stein in Ko­chel und in Ur­feld im Ein­zel­nen ver­zeich­nen, und wei­te­ren Ar­chi­vre­cher­chen zu den in der Dienst­vil­la auf der Ho­hen War­te in Wien auf­be­wahr­ten Ob­jek­ten wur­den Her­kunft und Ver­bleib des Kul­tur­gut­be­sit­zes von Bal­dur und Hen­ri­et­te von Schi­rach mög­lichst weit­ge­hend do­ku­men­tiert. Auf die­se Wei­se konn­ten 132 Kunst­ge­gen­stän­de, 70 Mö­bel und Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de und ca. 490 Bü­cher mit Ti­tel (die Bi­blio­thek um­fass­te tat­säch­lich ca. 12.000 Bän­de) er­fasst wer­den. Für min­des­tens 4 der Kunst­wer­ke wur­de ein NS-ver­fol­gungs­be­ding­ter Ent­zug ein­deu­tig fest­ge­stellt. Min­des­tens 45 Ob­jek­te wei­sen zu­dem ei­ne be­denk­li­che Pro­ve­ni­enz auf, da von Schi­rach sie in vom Deut­schen Reich be­setz­ten Ge­bie­ten (Frank­reich und Nie­der­lan­de) er­warb.

Er­geb­nis­se zu 2
Bal­dur von Schi­rach nutz­te sei­ne Funk­ti­on als Reichs­statt­hal­ter nach­weis­lich aus, um Kunst­wer­ke aus in Wien be­schlag­nahm­ten Samm­lun­gen zu er­wer­ben. Zur „Ver­wer­tung“ frei­ge­ge­be­ne Kunst­ob­jek­te er­warb er so­wohl über die „Vu­ges­ta“, als auch di­rekt über sein Bü­ro so­wie über Kunst­händ­ler. Zu­dem er­warb von Schi­rach Kunst­wer­ke aus dem be­setz­ten Frank­reich und nutz­te sei­ne Pri­vi­le­gi­en als Funk­ti­ons­trä­ger des NS-Re­gimes, um be­schlag­nahm­te Kunst­wer­ke über die in Den Haag an­säs­si­ge „Dienst­stel­le Mühl­mann“ güns­tig zu er­wer­benund sie ge­winn­brin­gend auf dem deut­schen Kunst­markt zu ver­kau­fen.

Er­geb­nis­se zu 3
Von den 60 nach En­de des Krie­ges in Ko­chel auf­ge­fun­de­nen und in den Cen­tral Col­lec­ting Point (CCP) ge­brach­ten Kunst­ge­gen­stän­den er­hielt Hen­ri­et­te Hoff­mann-von Schi­rach ab 1948 ins­ge­samt 34 oh­ne Ge­gen­leis­tung aus­ge­hän­digt, 19 er­warb sie käuf­lich vom Staat. Drei Kunst­wer­ke wur­den re­sti­tu­iert und ei­nes zer­stört (ein Por­trät Bal­dur von Schi­rachs). Für drei Kunst­ge­gen­stän­de konn­te der Ver­bleib nach der Über­tra­gung auf den Frei­staat Bay­ern im Jahr 1952 nicht ge­klärt wer­den. Von den 68 im CCP si­cher­ge­stell­ten Mö­beln und Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­den er­hielt Hen­ri­et­te von Schi­rach 58 Ob­jek­te kos­ten­frei aus­ge­lie­fert, 7 Ob­jek­te kauf­te sie zu­rück. Bei den 3 ver­blei­ben­den Ge­gen­stän­den han­del­te es sich um lee­re Rah­men, die mög­li­cher­wei­se zu­sam­men mit den pas­sen­den Kunst­wer­ken zu­rück­gin­gen, oh­ne dass dies do­ku­men­tiert wur­de. So­mit ge­lang­ten ca. 92% der zum Zwe­cke der Re­sti­tu­ti­on und der Wie­der­gut­ma­chung ein­ge­zo­ge­nen Kunst­ge­gen­stän­de und Mö­bel wie­der in Fa­mi­li­en­be­sitz. Al­ler­dings sind in die­ser An­zahl we­der die Rück­ga­ben und -käu­fe aus der Bi­blio­thek noch aus der Ein­zie­hung des Be­sit­zes von Hen­ri­et­tes Va­ter Hein­rich Hoff­mann be­rück­sich­tigt. Im Fal­le des „Hol­län­di­schen Platz­bil­des“ aus dem Be­sitz von Hein­rich Hoff­mann er­ziel­te Hen­ri­et­te von Schi­rach zu­dem mit dem Ver­kauf ei­nen er­heb­li­chen Ge­winn.