NS-Raubgut
Koloniale Kontexte

Zum Nachhören: „Anatomie im Nationalsozialismus und das Vienna Protocol – Vom Umgang mit dem materiellen und immateriellen historischen Erbe“ | Kolloquium Provenienzforschung

In Kooperation mit CARMAH (Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage) lud das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste am 11. Dezember 2023 zur Veranstaltung „Anatomie im Nationalsozialismus und das Vienna Protocol – Vom Umgang mit dem materiellen und immateriellen historischen Erbe“ mit Dr. med. Sabine Hildebrandt in der Veranstaltungsreihe „Kolloquium Provenienzforschung“.

Die Anatomie gehörte zu den medizinischen Wissenschaften, die in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) von den kriminellen Aktivitäten des Regimes nicht nur profitierten, sondern sich aktiv daran beteiligten. Während jüdische und politisch oppositionelle Anatom:innen verfolgt und vertrieben wurden, trat die überwiegende Mehrzahl der Verbliebenen der NSDAP aus Überzeugung oder Opportunismus bei (5% waren Frauen, und keine davon in führender Position). Fachlich profitierten Anatom:innen von der Arbeit mit Leichen von NS-Opfern, zu denen auch Hingerichtete gehörten, und die in Lehre und Forschung eingesetzt wurden. Die ethische Entgrenzung führte sogar bis zum Mord für anatomische Zwecke.

Zum materiellen Erbe aus dieser Zeit gehören Gewebesammlungen, die sich noch lange nach dem Krieg in Instituten befanden und wahrscheinlich noch nicht alle gefunden wurden. Das immaterielle Erbe besteht aus Aufsätzen, Büchern und anatomischen Atlanten, die auf den Arbeiten mit Leichen der NS-Opfer beruhen. Das Vienna Protocol von 2017 bietet Empfehlungen nicht nur zum Umgang mit den menschlichen Überresten von NS-Opfern, sondern auch mit den Daten und Bildern, die aufgrund der Arbeit mit ihnen entstanden sind. Im Gegensatz zu anderen bisherigen Richtlinien orientiert sich das Vienna Protocol wesentlich an jüdischer Medizinethik.

Die Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus hat Resonanzen mit der Geschichte der Anthropologie im Kolonialismus und anderen Unrechtskontexten. Transparenz und die Frage nach einem angemessenen Umgang mit diesem Erbe stellen nicht nur ein wesentliches Prinzip in Forschung und Lehre dar, sondern sollen auch das zentrale Thema des Vortrags sein.

Sabine Hildebrandt lehrt Anatomie und Geschichte der Anatomie an der Harvard Medical School und am Harvard College. Ihre Forschungsinteressen sind Geschichte und Ethik der Anatomie und ihr pädagogischer Ansatz integriert Anatomie, Medizingeschichte und Medizinethik. Neben anderen Veröffentlichungen über Medizin, Nazideutschland und den Holocaust ist ihr 2016 erschienenes Buch The Anatomy of Murder: Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich die erste systematische Untersuchung der Anatomie in Nazideutschland.

Im Anschluss an den Vortrag wurde rege unter der Moderation von Sarah Fründt diskutiert - die Diskussion wurde ebenfalls aufgezeichnet.

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