Workshop "Mitgenommen", Humboldt Forum Berlin
Koloniale Kontexte

Raubgut, Handelsware oder Souvenir?

Beobachtungen zu einem Workshop auf den Spuren des „Boxerkriegs“ in deutschen Museen
Hajo Frölich, Berlin

Provenienzforschung zu kolonialen Kontexten verunsichert. Sie stellt Fragen, die für viele lange keine waren. Die Verunsicherung und wie man ihr begegnet, das war das Kernthema des Workshops „Mitgenommen“, der sich am 2. und 3. März 2023 im Humboldt Forum in Berlin mit Objekten aus dem Boxerkrieg von 1900/01 befasste.

Die Veranstaltung markierte nach gut einem Jahr die Halbzeit des durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste finanzierten Projekts „Spuren des ‚Boxerkrieges‘ in deutschen Museumssammlungen“. Sieben Häuser beteiligen sich an der „gemeinsamen Annäherung“: Das Museum für Asiatische Kunst und das Ethnologische Museum (Berlin), das Museum für Kunst und Gewerbe und das Museum am Rothenbaum (Hamburg), das Grassi Museum für angewandte Kunst (Leipzig), das Museum fünf Kontinente (München) und das Museum angewandte Kunst (Frankfurt/Main). Christine Howald, Provenienzforscherin und Stellvertretende Direktorin des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin, leitet das Projekt, Kerstin Pannhorst koordiniert und forscht. Wer in der langen Reihe fehlte, waren die Kooperationspartner aus dem Pekinger Palastmuseum. Deren Teilnahme stellte Pannhorst für einen zweiten Workshop am Jahresende in Aussicht.

Die diesmal auf der Bühne standen, waren angetreten, der Verunsicherung entgegenzuwirken. Wobei diese schon damit beginnt, dass der Boxerkrieg, also die militärische Intervention von acht Kolonialmächten, China galt – einem Land, das heute gar nicht wie ein Opfer wirkt. Im Sommer 1900 wurden in Peking und Umgebung Ausländer und chinesische Christen durch „Boxer“ bedroht und getötet – je nach Lesart Widerstandskämpfer oder schlicht verarmte Bauern, die mit guten Gründen Kolonien wie das nahe Tsingtau, „Strafexpeditionen“, Eisenbahnbau und christliche Mission für ihre Lage mitverantwortlich machten. Daraufhin auch aus dem Deutschen Reich entsandte Truppen besetzten und plünderten unter anderem Peking samt der Verbotenen Stadt. Mehr als 100.000 Menschen kamen ums Leben. Die kaiserliche Regierung wurde zehn Jahre später, auch durch enorme „Entschädigungszahlungen“ geschwächt, in einer Revolution beseitigt.

Wen interessiert der Boxerkrieg mehr als 120 Jahre später noch? Nun, die Schlange der Wartenden zog sich quer über den Schlüterhof des Berliner Neubauschlosses. Mehr als 150 Menschen waren gekommen, nicht nur Museumsleute. Eingeladen waren auch alle, die chinesische Objekte ihr Eigen nennen, vor 1900 geschaffen, ab 1900 gehandelt – oder direkt vom Urgroßvater mitgebracht: Deutschland hatte mit 20.000 Soldaten das größte Kontingent gestellt. Die wenigsten werden ohne Souvenirs zurückgekehrt sein. Und so kann das Projekt auch in den beteiligten Museen nicht alle Provenienzen untersuchen, wie Christine Howald betonte. Stattdessen will man Muster erkennen und einen Leitfaden für alle zusammenstellen.

Am ersten Tag wurden verschiedene Aspekte der Plünderungen beleuchtet. Beispielsweise legte Cord Eberspächer (Bonn/Changsha) dar, welche Akteure sich an dem Beutezug in Peking beteiligten oder davon profitierten, darunter neben den Preußischen Museen auch chinesische Händler. Ricarda Brosch (London) thematisierte die Plünderung der westlichen Kaisergräber der Qing-Dynastie, speziell eine Bildrolle. Maik Jachens (Hannover) berichtete, wie er im Landesmuseum Hannover Plündergut entdeckte, der chinesischen Botschaft meldete und zum Gegenstand einer kleinen Ausstellung machte. Schließlich zeigten mit Bettina Zorn (Wien), Susanne Knödel (Hamburg) und Birgitta Augustin (Berlin) drei Kuratorinnen anhand von Beispielen, wie die Provenienz „Boxerkrieg“ heute in Ausstellungen thematisiert wird.

Der zweite Tag war der Praxis der Provenienzforschung gewidmet – und führte die Dimension des Problems vor Augen. Vortragende aus sechs Museen und der Deutschen Nationalbibliothek legten dar, was sie an Verdachtsfällen identifiziert hatten. Die Menge schwankte zwischen einer Handvoll und vielen tausend. Das hat nicht allein mit dem Umfang der Sammlungen zu tun, sondern offenbart ein Kernproblem: Die wenigsten Museen sind auf Ostasien spezialisiert. Gerade kleinen Häusern fehlt Fachwissen. Dennoch besitzen viele von ihnen Objekte aus China (was nicht immer klar erkennbar ist), die vor 1900 hergestellt wurden (dito). Wenn dann auch das Hausarchiv keinen Kontext liefert, wird die Liste der zu überprüfenden Objekte schnell lang. Sammlungen mit China-Fokus haben zwar einen Vorsprung – aber auch ihre Kurator:innen erkennen Plünderware nicht im Vorbeigehen.

Deshalb trugen die Veranstalterinnen zum Schluss das Wissen aller Teilnehmenden zusammen: Was ist besonders an diesem Krieg, wie erkenne ich verdächtige Objekte, was mache ich dann, wo finde ich Informationen? Der Leitfaden, der entstehen soll, wird die eigens finanzierte Provenienzforschung nicht ersetzen können. Aber indem er etwa einschlägig bekannte Orts- und Sammlernamen auflistet, kann er Privatleuten, Museen und auch Bibliotheken helfen, Problemfälle besser einzugrenzen.

Dann wird sich auch der von Renata Fu-sheng Franke kritisierte „Generalverdacht“ präzisieren und im Einzelfall schneller ausräumen oder bestätigen lassen (siehe dazu die Replik von Christine Howald). Andere Projekte und Ausstellungen legen nahe, dass eindeutiges Raubgut zwischen Handelsware und Souvenirs aus China eher die Ausnahme ist. Es besteht kein Grund zur Panik, Forderungen nach Restitution sind bislang nicht bekannt. Das sollte aber kein Grund sein, es nicht genauer wissen zu wollen. Gegen die Verunsicherung hilft Hinschauen. Das hat dieser Workshop getan.