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Kriegsverluste
SBZ / DDR

Von der Nische zur Institution

Die Provenienzforschung im Kontext deutscher
Kultur- und Erinnerungspolitiken
Felix Brönner (HCCH), Heidelberg

Die Konjunktur des Begriffs „Provenienzforschung“ über die letzten zehn Jahre kann als bemerkenswert gelten. Meine Ansätze zur Forschung über Provenienzforschung untersuchen die Bedingungen dieser Verbreitung, seine historischen, sozialen und kulturellen Dimensionen. Als ich begann, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, stellten sich mir zunächst die Fragen: Gab es Provenienzforschung schon immer? Und: Wenn ja, mit welchem Fokus?

Laut der Website des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg liegen die Anfänge des Zentrums und damit staatlich organisierter Provenienzforschung in der „Koordinierungsstelle der Länder für die Rückführung von Kulturgütern" in Bremen, gegründet im Jahr 1994. Zu diesem Zeitpunkt nutzte jedoch so gut wie niemand den Begriff „Provenienzforschung“ für die Aktivitäten, die nach heutigem Verständnis als solche gelten würden. In den Akten zur Entstehung und zu den Aktivitäten der Koordinierungsstelle von 1994 lassen sich neben dem neutralen Begriff „Experten“ Bezeichnungen wie „Kunst-Detektive“ und „Jäger verlorener Schätze“ finden. Auch prominente Provenienzforscher:innen der ersten Stunde hätten sich damals selbst nicht als solche bezeichnet. Zu dem Fokus der Koordinierungsstelle lässt sich feststellen: Die Stelle befasste sich damals fast ausschließlich mit den Kunst- und Kulturobjekten, die Kunst- und Kulturinstitutionen des Deutschen Reiches im Rahmen des Zweiten Weltkrieges abhandengekommen waren – sogenannter Beutekunst. Insbesondere konzentrierte man sich auf die sowjetische Besatzung und die sogenannten „Trophäenbrigaden“. Mit dem Zerfall der Sowjetunion sahen besonders betroffene Bundesländer die Chance, ihre Objekte zurückzuerhalten. Aber auch der Bund blieb nicht untätig, so wurden Anfang der 90er-Jahre parallel zwei Institutionen gegründet: Die „Dokumentationsstelle“ der Außenstelle Kultur des Bundesinnenministeriums sowie die auf Initiative einiger Bundesländer eingerichtete Koordinierungsstelle der Länder in Bremen.

Im Zuge dieser Rekonstruktion erscheint es aus meiner Sicht bemerkenswert, dass sich in den Akten der Koordinierungsstelle der Länder von 1994 so gut wie keine Erwähnungen der NS-verfolgungsbedingten Entziehungen bei Privatpersonen finden lassen, was heutzutage als Hauptaufgabe der Provenienzforschung gelten kann. Erst Ende der 90er-Jahre (und damit 50 Jahre nach dem Ende des Holocausts) rückte dieses Thema mehr und mehr auf die politische und öffentliche Agenda - vor allem durch die Auswirkungen der vom U.S. Holocaust Memorial Museum und dem US State Department initiierten Washingtoner Konferenz von 1998. Diese führte schrittweise zur Erweiterung des Aufgabenbereiches der mittlerweile nach Magdeburg umgezogenen Koordinierungsstelle und 2008 zur Gründung der Arbeitsstelle für Provenienzforschung beim Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin. An weitere gegenwärtig relevante Schwerpunkte der Provenienzforschung wie SBZ/DDR und den Kolonialismus dachten zu dem Zeitpunkt die wenigsten. Um diesen selektiven Fokus in der Entwicklung staatlich organisierter Provenienzforschung zu verstehen, sollten die Themen Erinnerung und Erinnerungspolitiken berücksichtigt werden. Für den Kontext Nationalsozialismus gehe ich von Folgendem aus:

Es besteht, einer ersten Einschätzung nach, eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Aushandlung von Erinnerung in der BRD, Erinnerungspolitiken und der Institutionalisierung der Provenienzforschung. Als Parallelbeispiel kann man die Entschädigung von Zwangsarbeiter:innen heranziehen, eine weitere Folge des Nationalsozialismus. Auch hier ist das Jahr 1998 ein Wendepunkt. In jenem Jahr einigten sich die Fraktionen des Bundestags darauf, eine Stiftung mit dem Namen „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zur Entschädigung von Zwangsarbeit unter finanzieller Beteiligung der deutschen Wirtschaft einzurichten (wiederum mehr als 50 Jahre nach dem Ende des Holocausts). Entscheidend hierfür war eine Klagewelle unter anderem aus den USA sowie die negative internationale und nationale Berichterstattung.

Wenn wir wieder zurück auf die staatlich organisierte Provenienzforschung schauen und die Zeit nach 1998, lassen sich an einem bekannten Beispiel weitere Parallelen aufzeigen: Im Jahr 2013 gelangte im Rahmen der sogenannten Gurlitt-Affäre durch einen „Focus“-Artikel die Geschichte einer teilweise belasteten (privaten) Kunstsammlung an die nationale, aber auch internationale Öffentlichkeit. Staatliche Stellen, insbesondere der Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung, waren zunächst überrumpelt – auch von den internationalen Reaktionen: Es meldeten sich unmittelbar nach Erscheinen des „Focus“-Artikels die Holocaustbeauftragen von Israel, den USA und dem Vereinigten Königreich bei deutschen staatlichen Stellen und verlangten Aufklärung. Der politische und mediale, internationale wie nationale Druck war ein wichtiger Faktor, der die Bundesrepublik zum Handeln zwang. Dies führte letztendlich auch zur Einrichtung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste unter maßgeblicher Kontrolle nicht wie zuvor der Länder, sondern der Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung.

Die hier beschriebenen bundesdeutschen Reaktionen dienten unter anderem der Abwendung / Vorbeugung von nationaler und internationaler Kritik an mangelhafter Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Dies ging einher mit einer kontinuierlichen Zentralisierung von kultur- und erinnerungspolitischen Fragestellungen auf Bundesebene. Seit 1990 hat sich „der als „Erinnerungskultur“ bezeichnete Modus“ (Astrid Messerschmidt) als staatstragendes Element im Selbstverständnis und der internationalen Repräsentation der Bundesrepublik entwickelt. Es stellt sich die Frage: Wird die staatlich organisierte Provenienzforschung mit fortschreitender Institutionalisierung zu einem Teil der „kulturellen Grundausstattung der Bundesrepublik“ (Volkhard Knigge) und welche Folgen hat dies?

In der Forschung über Provenienzforschung gilt es, diese Fragen nicht nur für den Kontext NS oder den Kontext „Beutekunst“ zu beantworten, sondern auch für die anderen zwei großen Fachbereiche des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste: SBZ/DDR und koloniale Kontexte, wie auch deren Verhältnis untereinander.