„Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte“
Die Debatte um die Rückgabe von Kulturgütern an ehemalige Kolonialgebiete ist hoch aktuell – und zugleich viel älter als den meisten bekannt. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste untersucht in seiner digitalen Herbstkonferenz „The Long History of Claims for the Return of Cultural Heritage from Colonial Contexts“ vom 17. bis 19. November 2021 in Kooperation mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem Research Center for Material Culture of the National Museum of World Cultures, the Netherlands die lange Geschichte der Forderungen nach der Rückgabe von Kulturgütern und menschlichen Überresten aus kolonisierten Ländern.
Die Tagung mit mehr als 500 registrierten Teilnehmer:innen arbeitet systematisch auf, wie einzelne Personen, manchmal auch Gemeinschaften beispielsweise in Namibia, Neuseeland, Äthiopien und Peru bereits seit dem 19. Jahrhundert ihr kulturelles Erbe von europäischen Kolonialmächten zurückverlangten. Über viele Jahrzehnte jedoch blieben Rückgaben die Ausnahme:
„Die Forderungen nach Restitutionen reichen sehr lange zurück und sind trotzdem häufig bis heute unbeantwortet geblieben. Das zeigt, wie dringlich es ist, zu sensiblen und transparenten Lösungen für den Umgang mit Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu finden“, sagt Gilbert Lupfer, Vorstand des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. „Die Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte ist auch für die Identität von deutschen Institutionen enorm wichtig. Provenienzforschung, also die Untersuchung der Herkunft von Objekten und von menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, hat dabei eine zentrale Bedeutung.“
Auf der Tagung beleuchten mehr als 40 Wissenschaftler:innen und Expert:innen aus aller Welt Forderungen und Rückgaben bis in die 1970er Jahre. Sie zeichnen oft jahrzehntelange Auseinandersetzungen über Restitutionen nach, spüren verdeckte Hinweise auf Gewalt der ehemaligen Kolonialmächte in den Archiven auf und diskutieren, was die „Heimkehr“ menschlicher Gebeine für Gesellschaften bedeuten kann. Welche Lehren aus der Geschichte für die Gegenwart zu ziehen sind, dieser Frage stellt sich zum Abschluss der Tagung eine hochkarätig besetzte Podiumsrunde, moderiert von Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk).
Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters: „Das während der Kolonialzeit geschehene Unrecht ans Licht zu holen, ist Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den Menschen in den Herkunftsgesellschaften. Dazu gehört der angemessene Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Die Erklärung zu den Benin-Bronzen ist hier ein wichtiger Meilenstein, dem schon im kommenden Jahr substantielle Rückgaben folgen sollen. Jetzt kommt es darauf an, diesen Prozess energisch weiterzuverfolgen und so das Bewusstsein für unsere koloniale Geschichte zu schärfen. Die Konferenz des DZK leistet dafür einen wichtigen Beitrag.“
Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: „Museen haben in der Debatte um kolonialzeitlich erworbene Objekte eine besondere Verantwortung über akademische Diskussionen hinaus: Sie müssen als bewahrende Einrichtungen konkrete Lösungen finden – gemeinsam mit Herkunftsländern und Communities. Diese Verantwortung für das uns anvertraute Sammlungsgut nehmen wir in der SPK wahr, wie wir es seit Jahren bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit tun. Dabei ist es essentiell, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Deshalb ist diese Konferenz so wichtig!“
Wayne Modest, Content Director of the National Museum of World Cultures, the Netherlands: „Die Frage der Rückgabe ist zu einem der aktuell dringlichsten Themen geworden, denn sie erinnert uns daran, dass die koloniale Vergangenheit eben nicht einfach vergangen ist, sondern auch unsere Gegenwart formt. Anders als wir manchmal glauben, sind diese Diskussionen nicht neu: Wir sollten niemals vergessen, wie lange schon darum gekämpft wird, diese Frage auf die Agenda zu setzen. Die Debatte hängt eng zusammen mit gegenwärtigen Fragen nach Gerechtigkeit – und nach historischen Ungerechtigkeiten, die bis heute nachwirken. Solchen Ungerechtigkeiten müssen wir uns als Museen stellen, wir können uns nicht mehr vor ihnen verstecken, wenn wir die Gegenwart verändern und eine gerechtere Zukunft mitgestalten wollen. Ich sehe diese Konferenz nicht nur als eine Beschäftigung mit der Geschichte der Rückforderungen. Sie ist nicht einfach nur eine Geschichtsstunde, sondern eine wichtige Möglichkeit, aus dem zu lernen, was bereits getan wurde und zu erkennen, was noch zu tun bleibt, um echte Veränderungen zu erreichen.”
Hinweis:
Aufgrund der internationalen Ausrichtung ist die Konferenzsprache Englisch, der Abendvortrag von Bénédicte Savoy am Donnerstag, 18. November, um 19 Uhr (MEZ) und die Podiumsdiskussion zum Abschluss der Konferenz am Freitag, 19. November, 14.30 Uhr (MEZ), finden auf Deutsch statt (mit englischer Übersetzung). Das Tagungsprogramm ist abrufbar unter https://history-of-restitution.com. Da die maximale Teilnehmer:innenzahl erreicht ist, wird die Veranstaltung zusätzlich per Livestream auf dem YouTube-Kanal des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste unter www.kulturgutverluste.de übertragen und ist so öffentlich und ohne Voranmeldung zugänglich.
Publikationen zur Konferenz
Zur Konferenz erscheint die erste Ausgabe der „Working Paper Deutsches Zentrum Kulturgutverluste“, die das Zentrum neu als Online-Publikationsreihe herausgibt: „Returns of Cultural Artefacts and Human Remains in a (Post)colonial Context: Mapping Claims between the mid-19th Century and the 1970s“ (Autor: Historiker Lars Müller). Mit der Reihe publiziert das Zentrum in loser Folge Texte zu aktuellen Forschungsthemen auf der Online-Publikationsplattform https://perspectivia.net/ der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland. Dazu gehören unter anderem Dossiers, Leitfäden, Recherchehilfen, Forschungsberichte und Übersichten aus allen Förderbereichen und Handlungsfeldern der Stiftung: zu NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut (sog. NS-Raubgut), zu kriegsbedingt verbrachtem Kulturgut, zu Kulturgutentziehungen in SBZ/ DDR und zu Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Das erste Working Paper ist jetzt kostenfrei abrufbar unter: https://doi.org/10.25360/01-2021-00017
Die Beiträge der Konferenz werden im vierten Band der wissenschaftlichen Schriftenreihe „Provenire“ erscheinen, herausgegeben vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Die Stiftung
Das von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden zum 1.1.2015 gegründete Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg ist in Deutschland zentraler Ansprechpartner zu Fragen unrecht-mäßig entzogenen Kulturguts. Das Zentrum wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien institutionell gefördert und erhält von dieser auch die Mittel für seine Projektförderung. Das Hauptaugenmerk des Zentrums gilt dem im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz. Seit 2019, als das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste um einen Fachbereich für koloniale Kontexte erweitert wurde, ist es auch möglich, die Förderung von Projekten zu beantragen, die sich mit Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befassen. Seitdem wurden insgesamt rund 4,4 Millionen Euro für 40 Projekte in diesem Bereich bewilligt.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kulturgutverluste.de
Lena Grundhuber
Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Stiftung bürgerlichen Rechts
Pressestelle
Humboldtstraße 12 | 39112 Magdeburg
Telefon +49 (0) 391 727 763 35
Telefax +49 (0) 391 727 763
In Kooperation mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem Research Center for Material Culture of the National Museum of World Cultures, the Netherlands.