Deutsches Zentrum Kulturgutverluste bewilligt in der ersten Antragsrunde 2021 rund 685.000 Euro für fünf Forschungsprojekte zu kolonialen Kontexten

In den Projekten soll geklärt werden, woher und unter welchen Umständen Objekte und menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten in deutsche Sammlungen kamen.

Während der Kolonialzeit gelangten Objekte aus aller Welt nach Deutschland. Noch heute befinden sich Kulturgüter aus einstigen Kolonialgebieten in Museen oder universitären Sammlungen – häufig ist unklar, ob sie getauscht, gekauft oder geraubt wurden. Daneben gibt es in den Einrichtungen aber auch menschliche Überreste, die man etwa zum Zwecke anthropologischer sogenannter „Rasse-Forschungen“ nach Europa verschleppte. 

Um zu klären, woher und unter welchen Umständen die Objekte und menschlichen Überreste in deutsche Sammlungen kamen, hat nun der Vorstand des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg auf Empfehlung seines Förderbeirats in der ersten Antragsrunde 2021 fünf Forschungsanträgen im Bereich „Koloniale Kontexte“ zugestimmt und dafür insgesamt 684.493 Euro Fördergeld bewilligt. Drei der Projekte wurden neu beantragt, zwei bereits laufende werden verlängert.

Ein Ver­bund­pro­jekt in Ba­den-Würt­tem­berg be­fasst sich mit der Her­kunft mensch­li­cher Über­res­te in den wis­sen­schaft­li­chen Samm­lun­gen des Lan­des. Sie wur­den einst von den In­sti­tu­tio­nen er­forscht und un­ter­ein­an­der ge­tauscht. Ent­spre­chend ha­ben sich nun auch meh­re­re Ein­rich­tun­gen zu­sam­men­ge­tan, um die­se Be­stän­de auf­zu­ar­bei­ten: Das Mu­se­um und die Os­teo­lo­gi­sche Samm­lung der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen, die Staat­li­chen Mu­se­en für Na­tur­kun­de in Stutt­gart und Karls­ru­he und das Lin­den-Mu­se­um Stutt­gart ge­hen der Pro­ve­ni­enz von mehr als 100 mensch­li­chen Über­res­ten aus Afri­ka nach.

Ein Ver­bund­pro­jekt, das ganz Deutsch­land um­spannt, wid­met sich ei­nem heu­te oft ver­ges­se­nen Ko­lo­ni­al­ge­biet: Plün­der­gut aus Chi­na un­ter­sucht die Stif­tung Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz im Ver­bund mit dem MARKK Ham­burg, dem Mu­se­um Fünf Kon­ti­nen­te Mün­chen, dem Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst, Frank­furt am Main, dem Mu­se­um für Kunst und Ge­wer­be, Ham­burg und dem Gras­si Mu­se­um für an­ge­wand­te Kunst Leip­zig. Nach der Nie­der­schla­gung des Wi­der­stands der so­ge­nann­ten „Bo­xer-Be­we­gung“ wur­den tau­sen­de Kul­tur­gü­ter aus Chi­na ins Deut­sche Reich ge­schafft. Die Mu­se­en er­for­schen nun, ob ge­raub­te Ob­jek­te aus Chi­na in ih­ren Be­stän­den sind.

Das von Bund, Län­dern und kom­mu­na­len Spit­zen­ver­bän­den zum 1.1.2015 ge­grün­de­te Deut­sche Zen­trum Kul­tur­gut­ver­lus­te in Mag­de­burg ist in Deutsch­land zen­tra­ler An­sprech­part­ner zu Fra­gen un­recht­mä­ßig ent­zo­ge­nen Kul­tur­guts. Das Zen­trum wird von der Be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Me­di­en in­sti­tu­tio­nell ge­för­dert und er­hält von dort auch die Mit­tel für sei­ne Pro­jekt­för­de­rung. Das Haupt­au­gen­merk des Zen­trums gilt dem im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ver­fol­gungs­be­dingt ent­zo­ge­nen Kul­tur­gut, ins­be­son­de­re aus jü­di­schem Be­sitz. Seit Ja­nu­ar 2019, als das Deut­sche Zen­trum Kul­tur­gut­ver­lus­te um ei­nen Fach­be­reich für ko­lo­nia­le Kon­tex­te er­wei­tert wur­de, ist es auch mög­lich, die För­de­rung von Pro­jek­ten zu be­an­tra­gen, die sich mit Kul­tur- und Samm­lungs­gut aus ko­lo­nia­len Kon­tex­ten be­fas­sen. Seit­dem wur­den ins­ge­samt rund 3.1 Mil­lio­nen Eu­ro für 27 Pro­jek­te in die­sem Be­reich be­wil­ligt.

An­trä­ge für län­ger­fris­ti­ge Pro­jek­te kön­nen je­weils zum 1. Ja­nu­ar und 1. Ju­ni ei­nes Jah­res ein­ge­reicht wer­den, kurz­fris­ti­ge Pro­jek­te kön­nen je­der­zeit be­an­tragt wer­den. An­trags­be­rech­tigt sind al­le Ein­rich­tun­gen in Deutsch­land in öf­fent­lich-recht­li­cher Trä­ger­schaft, die Kul­tur­gut aus ko­lo­nia­len Kon­tex­ten sam­meln, be­wah­ren oder er­for­schen. Da­zu zäh­len Mu­se­en, Uni­ver­si­tä­ten und an­de­re For­schungs­ein­rich­tun­gen. Seit dem 1.1.2021 kön­nen An­trä­ge auch von Ein­rich­tun­gen ge­stellt wer­den, die als ge­mein­nüt­zig an­er­kannt sind und ih­ren Sitz in Deutsch­land ha­ben.

Deut­sches Zen­trum Kul­tur­gut­ver­lus­te
Stif­tung bür­ger­li­chen Rechts
Le­na Grund­hu­ber
Pres­se­stel­le
Hum­boldt­stra­ße 12 | 39112 Mag­de­burg
Te­le­fon +49 (0) 391 727 763 35
Te­le­fax +49 (0) 391 727 763 6
pres­se@kul­tur­gut­ver­lus­te.de
www.kul­tur­gut­ver­lus­te.de

An­hang zur Pres­se­mit­tei­lung

Die ge­för­der­ten 5 Ein­rich­tun­gen sind im Ein­zel­nen:

  • Mu­se­um der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen (MUT) mit Ver­bund­part­nern
  • Stif­tung Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz mit Ver­bund­part­nern
  • Lip­pi­sches Lan­des­mu­se­um Det­mold / Uni­ver­si­tät Bie­le­feld
  • Mu­se­um am Ro­then­baum (MARKK), Ham­burg 
  • Mu­se­um Na­tur und Mensch Frei­burg

Neue Pro­jek­te:

Mu­se­um der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen / Os­teo­lo­gi­sche Samm­lung der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen / Staat­li­ches Mu­se­um für Na­tur­kun­de Stutt­gart / Staat­li­ches Mu­se­um für Na­tur­kun­de Karls­ru­he / Lin­den-Mu­se­um Stutt­gart
In den wis­sen­schaft­li­chen Samm­lun­gen des Lan­des Ba­den‐Würt­tem­berg wer­den zahl­rei­che mensch­li­che Über­res­te auf­be­wahrt. Der wis­sen­schaft­li­che Aus­tausch zu ih­rer Er­for­schung wie auch der tat­säch­li­che Tausch oder der An­kauf von Ske­let­ten, Schä­deln oder an­de­ren Kör­per­tei­len fand in­sti­tu­tio­nen­über­grei­fend statt. Ziel des Pro­jek­tes ist da­her zum ei­nen die Grund­la­gen- und Kon­text­for­schung zu die­sen Ak­teur­s­netz­wer­ken, zum an­de­ren die Er­for­schung der Pro­ve­ni­enz von mehr als 100 mensch­li­chen Über­res­ten, die vor 1919 aus ver­schie­de­nen Re­gio­nen Afri­kas in die Samm­lun­gen ka­men. 

Lip­pi­sches Lan­des­mu­se­um Det­mold / Uni­ver­si­tät Bie­le­feld
Ziel des Pro­jekts ist die Er­for­schung der Pro­ve­ni­enz von zwei ca. 300 Ob­jek­te um­fas­sen­den Kon­vo­lu­ten der völ­ker­kund­li­chen Samm­lung des Lip­pi­schen Lan­des­mu­se­ums.Bei­de Kon­vo­lu­te sind zur Zeit des deut­schen Ko­lo­nia­lis­mus in West- und Ost­afri­ka zu­sam­men­ge­tra­gen wor­den. Es ist da­von aus­zu­ge­hen, dass die Samm­lun­gen am Ran­de von so­ge­nann­ten „Straf­ex­pe­di­tio­nen“ oder im Zu­ge von Ge­walt­an­wen­dung von Au­gust Kirch­hof und Eu­gen Zint­graff ak­qui­riert wur­den, die im deut­schen Ko­lo­ni­al­dienst stan­den, so­wie von Zint­graffs Bru­der Al­fred, der als deut­scher Di­plo­mat in Ost­afri­ka agier­te.

Stif­tung Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz / MARKK Ham­burg / Mu­se­um Fünf Kon­ti­nen­te Mün­chen / Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst, Frank­furt am Main / Mu­se­um für Kunst und Ge­wer­be, Ham­burg / Gras­si Mu­se­um für an­ge­wand­te Kunst Leip­zig
Im Au­gust 1900 wur­de die häu­fig als „Bo­xer“ be­zeich­ne­te, an­ti­ko­lo­nia­le Be­we­gung in Chi­na nie­der­ge­schla­gen. Tau­sen­de von Ar­te­fak­ten aus den sich an­schlie­ßen­den Plün­de­run­gen ge­lang­ten in deut­sche Mu­se­ums­samm­lun­gen. Ziel der For­schung ist es, erst­mals die Be­stän­de von sie­ben deut­schen Mu­se­en im Ver­bund auf mög­li­ches Plün­der­gut aus dem „Bo­xer­krieg“ hin zu un­ter­su­chen. Das Pro­jekt wird in en­ger Ko­ope­ra­ti­on mit der Shang­hai Uni­ver­si­ty durch­ge­führt, über die ei­ne Ver­net­zung mit wei­te­ren Part­ner:in­nen und Ex­pert:in­nen in Chi­na statt­fin­den wird.

Ver­län­ger­te Pro­jek­te (lau­fen seit 2019):

Mu­se­um am Ro­then­baum (MARKK), Ham­burg
Ziel des Pro­jek­tes ist die Er­for­schung der Ver­bin­dun­gen zwi­schen Han­dels­netz­wer­ken und dem Sam­meln von eth­no­gra­fi­schen Ob­jek­ten in Ozea­ni­en. Im ers­ten Pro­jekt­jahr konn­te be­reits für West­afri­ka er­mit­telt wer­den, wie ko­lo­nia­le Ak­teu­re beim Sam­meln auf Han­delss­truk­tu­ren zu­rück­grif­fen. Da­bei sol­len ins­be­son­de­re Ver­dachts­mo­men­te un­ter­sucht wer­den, die auf zwei­fel­haf­te An­eig­nungs­prak­ti­ken wie zum Bei­spiel ko­lo­nia­le Über­grif­fe oder die Nut­zung von un­glei­chen Mach­struk­tu­ren hin­deu­ten.

Mu­se­um Na­tur und Mensch Frei­burg
Un­ter­sucht wird die 279 Ob­jek­te um­fas­sen­de Samm­lung von An­to­nie Brand­eis, der Ehe­frau von Eu­gen Brand­eis, der meh­re­re Po­si­tio­nen in­ner­halb der ko­lo­nia­len Ver­wal­tung in un­ter­schied­li­chen Re­gio­nen des Pa­zi­fiks in­ne­hat­te – zu­letzt die des „kai­ser­li­chen Lan­des­haupt­manns“ auf den Mars­hall-In­seln. Die zum größ­ten Teil aus Mi­kro­ne­si­en stam­men­de Samm­lung soll auf ko­lo­nia­le Ver­flech­tun­gen hin un­ter­sucht und in ei­nem Dia­log­pro­zess mit den Her­kunfts­ge­sell­schaf­ten er­forscht und neu kon­tex­tua­li­siert wer­den.